Es ist die Crux der erneuerbaren Energien: Grüner Strom aus Wind und Sonne wird lastfern erzeugt, also unabhängig vom tatsächlichen Bedarf. Eben dann, wenn die Sonne scheint oder der Wind weht. Und genau diese Diskrepanz zwischen Erzeugung und Verbrauch führt zu einem steten Auf und Ab bei den Strompreisen – bis hin zu negativen Preisen zu Zeiten, in denen so viel Strom vorhanden ist, dass Abnehmerinnen und Abnehmer sogar noch Geld verdienen können. Was also wäre, wenn man täglich einen Blick in die Zukunft werfen könnte? Wenn man nicht nur wüsste, wie sich das Wetter entwickelt, sondern auch, wie hoch der eigene Strombedarf dann ist. Wenn man wüsste, wie viel Trinkwasser wo genau benötigt wird und welche Systeme wann wie laufen müssten.
Für Stromgroßabnehmer wie das Wasserwerk Haltern ist ein solcher Blick in die Zukunft ein enormer Vorteil. Und das in vielerlei Hinsicht. Denn hier benötigen allein die Pumpen, die das Wasser ins Leitungsnetz befördern, jährlich rund 34 Gigawattstunden Strom. „AsWa erfüllt, in Analogie zu einem Navigationssystem im Auto, die Aufgabe des globalen Optimierers, um die nachhaltigste und sicherste Fahrweise der Trinkwasserproduktion und Energieeigenerzeugung zu bestimmen“ sagt Kley-Holsteg. Hinter dieser recht vereinfachten Leistungsbeschreibung steckt indes eine hochkomplexe Software, die in Echtzeit Daten einliest, aufbereitet, analysiert und visualisiert.
Das Herzstück: datengetriebene Prognosen der drei Haupteinflussfaktoren – Wassernachfrage, Energieeigenerzeugung und Strompreise. Und das bis zu 32 Stunden im Voraus. Beispielsweise lernt AsWa anhand von Wetterdaten und historischen Verbrauchsdaten, dass an heißen Tagen gegen Abend der Wasserverbrauch regelmäßig steigt, weil die Menschen ihre Gärten gießen, oder an Feiertagen der Wasserverbrauch in den Morgenstunden regelmäßig fällt, weil die Menschen länger schlafen. Auf Basis dieses „Blickes in die Zukunft“ und der Berücksichtigung einer Vielzahl von betrieblichen Rahmenbedingungen erstellt AsWa entsprechende Empfehlungen.
„Wir haben für AsWa vier wesentliche Mehrwerte formuliert“, erklärt Kley-Holsteg. An oberster Stelle stehen die Themen Versorgungssicherheit und Energieeffizienz. Anders gesagt: „AsWa liefert uns Empfehlungen, wie wir den notwendigen Wasserbedarf mit möglichst wenig Risiko eines Versorgungsengpasses und mit möglichst wenig Energieleistung sicherstellen können.“ Das System selbst lernt dabei schnell und ist etwa in der Lage „Schocks“ im Nutzungsverhalten, etwa während der Pandemie, innerhalb von wenigen Wochen „zu erlernen“.
Die KI analysiert zudem den Energiemarkt und kann – Mehrwert Nummer drei – flexibel auf Preisimpulse reagieren. „Wir sprechen hier von einer Optimierung gegen den Energiemarkt, was sowohl wirtschaftliche wie nachhaltige Vorteile hat.“ Denn: Gelsenwasser kann grünen Strom dank AsWa nicht nur dann einkaufen, wenn der Preis gerade niedrig ist, sondern vor allem zu jenen Zeiten, in denen es ein Überangebot gibt – was wiederum zur Netzstabilität beiträgt, da das Wasserwerk große Mengen Strom abnimmt. Denkbar wäre hier zudem ein weiterer Ausbau der KI-Leistung. Stichwort: Algotrading. „Das Assistenzsystem könnte in Echtzeit reagieren und je nach aktueller Entwicklung bereits eingekaufte Stromkontingente auch wieder verkaufen, weil sich abzeichnet, dass diese, etwa aufgrund unvorhergesehener starker Eigenerzeugung, nicht benötigen.“ Noch allerdings ist dieser Punkt Zukunftsmusik.
An anderer Stelle arbeitet Gelsenwasser derzeit hingegen bereits mit Hochdruck an einer künftigen Neuausrichtung. Am Ende dieses Prozesses steht das Thema Energieautarkie, das unmittelbar mit Mehrwert Nummer drei verknüpft ist. „Hier geht es um eine intelligente Vernetzung von Erzeugung und Verbrauch auf dem Wasserwerk. Wir sprechen hier von der alten und der neuen Welt. In der alten hatten wir auf einem Wasserwerk primär nur Energieverbraucher. In der neuen nähern sich bilanziell gesehen, etwa durch den Ausbau von Photovoltaik und Windkraft, Eigenerzeugung und Energieverbrauch an. Klares Ziel ist die Nutzung der eigenen grünen Energie zur Deckung des Energiebedarfs unserer Trinkwasserproduktion.“ Zwar seien in Haltern bereits eine Energierückgewinnungsanlage und zwei kleine PV-Anlagen im Einsatz, doch mit maximal 30.000 Kilowattstunden jährlich ist deren Leistung bei einem Unternehmen, das in Gigawattstunden rechnet, verschwindend gering. In den kommenden vier Jahren will Gelsenwasser den Bereich Sonnen- und Windkraft daher gezielt ausbauen – und AsWa noch deutlicher als bislang zu einem „intelligenten Manager der Energieströme“ entwickeln, der das Zusammenspiel von Eigenerzeugung und Eigenverbrauch optimal regelt.
Doppelte Auszeichnung
Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) hat die Gelsenwasser AG 2023 gleich doppelt ausgezeichnet: Das Gelsenkirchener Unternehmen erhielt den Umweltmanagement-Preis in den Kategorien „Beste Strategie für eine nachhaltige Unternehmensentwicklung“ und „Beste Maßnahme Klima- und Umweltschutz“ für die Entwicklung seines KI-gesteuerten Wasserwerk-Assistenzsystems (AsWa).
„AsWa schaut also gleich in mehrfacher Hinsicht in die Zukunft: Wie entwickelt sich der Wasserbedarf? Wie entwickelt sich der Energiemarkt? Wie entwickeln sich die Eigenerzeugung und die betrieblichen Abläufe?“ Für all diese Prognosen braucht es jede Menge Daten, jede Menge Schnittstellen. Und es braucht – auch zukünftig – den Menschen. „Unser hybrider Ansatz profitiert von Mensch-Maschine-Interaktion, dem Zusammenspiel auf Augenhöhe. AsWa lernt gut und AsWa lernt schnell, aber die jahrzehntelange Erfahrung unserer Fachleute ist bei den Prozessen auf einem Wasserwerk auch weiterhin enorm wichtig.“
Entwickelt hat Gelsenwasser das intelligente Assistenzsystem gemeinsam mit dem Dortmunder Unternehmen Logarithmo, einer Ausgründung der TU Dortmund. Eine Unternehmenskooperation, in der Know-how im Bereich Wasserwirtschaft, KI, Modellierung und Dateninfrastruktur zusammenkommen. In der das Start-up das 135 Jahre alte Traditionsunternehmen ergänzt. Und das sinnvoll und erfolgreich. „Tatsächlich sind wir jetzt in einer Phase, in der wir unser System als marktreifes Produkt anbieten können, denn von dieser Software kann jedes Wasserwerk profitieren.“ Ein weiteres Plus in Sachen wirtschaftliche Leistung also.
Gezeigt habe das Vorhaben zudem, dass mit Start-Up-Mentalität sowie mit Erfahrung und Tradition derartig umfangreiche Umwälzungsprozesse funktionieren. Kontakt zum „regionalen Nachwuchs“ sucht Gelsenwasser deshalb schon länger über einen regelmäßigen Start-up-Pitch. „Wir haben im Ruhrgebiet die klugen Köpfe, die es für die digitale Transformation braucht. Wir müssen es nur schaffen, sie für uns und die nachhaltige Bewirtschaftung unserer elementarsten Ressourcen zu begeistern. AsWa zeigt deutlich auf, was in der Region möglich ist. Es gab einen Pitch, auf den eine Kooperation folgte. Es gab einen Piloten, aus dem ein Produkt wurde. Das ist genau die Erfolgsgeschichte, die man hören will und die es braucht, um etwas Neues aufzubauen.“
Text: Redaktionsbüro Schacht11
Bilder: GELSENWASSER AG