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Filter setzen Circular Economy

Die Zukunft der Ernährung: Ober­hausen setzt auf gebäude­inte­grierte Land­wirt­schaft

Zehn Milliarden Menschen weltweit bis 2050, deutlich mehr als die Hälfte davon beheimatet in Städten und Mega-Citys; zehn Milliarden Menschen, die ernährt werden müssen: Die Prognosen der UN könnten kaum deutlicher aufzeigen, wie wichtig der nachhaltige Umgang mit Ressourcen ist. Klimawandel und Wetterextreme stellen die Landwirtschaft jedoch schon heute vor enorme Herausforderungen. Ein Projekt aus dem Ruhrgebiet will deshalb genau jenes Potenzial nachhaltig nutzen, das es in urbanen Regionen im Überfluss gibt: Gebäude. Seit 2019 macht der ALTMARKTgarten in Oberhausen vor, was möglich sein könnte. Als moderne Produktionsstätte und als Reallabor für das Fraunhofer-Institut UMSICHT, das dort das Konzept des sogenannten inFARMING® erforscht – gebäudeintegrierte Landwirtschaft. Kein Ersatz für Feld und Schrebergarten, sondern eine „Hybridlösung“, ein neuer Baustein in der Bewältigung drängender Zukunftsfragen.

Gefördert im Rahmen der Umweltwirtschaftsstrategie: Umweltwirtschaft Green Economy - stark in NRW

Den Weg nach oben weisen Clematis, wilder Wein und Blauregen. Wie grüne Schnüre ziehen sich die Pflanzen an der Ostseite des neuen Jobcenters Oberhausen in die Höhe – bis hinauf in die fünfte Etage, wo sich ein riesiger Glasaufbau deutlich vom braunrot geklinkerten Rest des Gebäudes abhebt. An guten Tagen reicht der Blick von dort oben bis nach Düsseldorf. An normalen wird man mit einer beeindruckenden Aussicht über die alte Oberhausener Innenstadt belohnt. Dach an Dach, Haus an Haus – wo die meisten schlicht die City sehen, erblicken Forschende wie Dr.-Ing. Felix Thoma, Gruppenleitung Indoor-Farming am Fraunhofer UMSICHT, vor allem eines: mögliches Potenzial.
 
Seit 2019 gibt es das so auffällig zweigeteilte Gebäude an der Marktstraße. Unten: Jobcenter. Oben: ALTMARKTgarten. Der versteht sich als ein Zentrum für nachhaltige regionale Lebensmittelversorgung, ist aber eigentlich noch viel mehr, nämlich ein Modellprojekt in Sachen urbane Agrarwirtschaft und Circular Economy, sprich: Kreislaufwirtschaft. Denn hier hat man den Büros nicht einfach nur ein Gewächshaus aufs Dach gesetzt. Hier geht es um mehr: Gläserner Aufbau und Gebäude sind miteinander verbunden – das Wort „verwachsen“ trifft es vielleicht noch besser. Soll heißen: Zentrale Technologien des Hauses sind mit der Lebensmittelproduktion in der fünften Etage gekoppelt. Auf rund 1.100 Quadratmetern baut das Unternehmen Exner Grüne Innovation dort Erdbeeren, Salate und Kräuter an. Eine vierte Kammer von etwa 160 Quadratmetern „bespielt UMSICHT“, sagt Thoma, und meint damit die Forschung an einer nachhaltigen und effizienten Lebensmittelproduktion unter dem optimalen Einsatz von Energie, Wasser und Nährstoffen. Die Ressource: das Gebäude selbst.

1.100 qmAnbaufläche für Lebensmittel
160 qmUMSICHT Forschungsfläche

„Unser Konzept, für das wir uns den Namen inFARMING® haben sichern lassen, beruht im Grunde genommen darauf, dass wir wichtige Stoffkreisläufe innerhalb des Hauses schließen.“ Abwärme und kohlendioxidhaltige Abluft aus den Büroräumen etwa fördern auf dem Dach das Pflanzenwachstum und dienen als Wärmequelle. Zur Bewässerung wiederum steht in der Produktion neben Stadtwasser auch das im Keller gesammelte Regenwasser zur Verfügung. Der Forschungsbereich verfügt zudem über einen Anschluss an die Grauwasserleitung, um auch den Nutzen von aufbereitetem Brauchwasser untersuchen zu können. 
 
Wasser und Luft also sind zwei zentrale Themen hoch oben über dem Oberhausener Altmarkt. Licht ist ein weiteres, und das gibt es dort reichlich: Verschattungsblenden fahren deshalb je nach Intensität der Sonneneinstrahlung vollautomatisch auf und zu, um die Pflanzen zu schützen. Hochmoderne LED-Installationen loten zudem den Effekt zusätzlicher Beleuchtung aus. Temperatur- und Luftfeuchte-Sensoren hängen – bunt wie kleine Lufterfrischer – in unterschiedlicher Höhe von den Stahlträgern und zeichnen die jeweiligen Bedingungen in einer 3D-Karte auf. Und selbst die Dachfenster, sind eine Art Experiment: Fraunhofer UMSICHT testet im ALTMARKTgarten eine spezielle Glas-Folie-Kombination, die sich nicht nur vorteilhaft auf die Wärmedämmung auswirkt, sondern auch dafür sorgt, dass dank zirkulierender Gebäudeluft zwischen Glas und Folie Eis- oder Schneelasten zügig abtauen, weil die einerseits den Lichteinfall einschränken, andererseits das Gebäude zusätzlich mit ihrem Gewicht belasten. Dass sich die Fenster je nach Innentemperatur automatisiert öffnen und schließen, erscheint da schon beinahe selbstverständlich.

16.000Köpfe Salat
14.000Töpfe Kräuter
150 kgErdbeeren pro Jahr

In der eigentlichen Produktion geht es mit unterschiedlichen Anbaumethoden dann vor allem um gute Erträge und einen möglichst nachhaltigen Umgang mit der Ressource Wasser. Sattgrüne Salate etwa schwimmen auf Kulturplatten in einer Nährlösung (Deep-Flow-Technique). Erdbeeren wiederum, remontierende Sorten, die gleichzeitig Blüten und Früchte tragen, werden in vertikalen Stellagen kultiviert und über ein Tröpfchensystem optimal versorgt. Und Basilikum, Koriander oder Petersilie gedeihen auf Ebbe-Flut-Tischen, die je nach Anforderung ein- oder mehrmals täglich mit Nährstofflösung geflutet werden und überschüssiges Wasser später zurück ins System geben. Das Ergebnis: 16.000 Köpfe Salat, 14.000 Töpfe Kräuter und 150 Kilogramm Erdbeeren pro Jahr. 
 
Und da ist noch deutlich mehr auf der Haben-Seite. Thoma: „Die Liste der Vorteile gebäudeintegrierter Landwirtschaft ist lang: geschlossene Ressourcenkreisläufe und eine hochwertige, wassersparende Produktion, kürzere Transportwege ohne aufwendige Kühlung, weil die Lebensmittel gleich unten auf dem Markt verkauft werden, ein kontrollierter Anbau ohne Pestizide, insgesamt ein besserer CO2-Fußabdruck.“ Da die Erdbeeren gerade mal vier Wochen, die übrigen Pflanzen lediglich zwischen sechs und acht Wochen bis zur Reife benötigen, kann zudem mehrmals jährlich geerntet werden – der vorhandene Raum wird also bestmöglich genutzt. 

„Das Projekt ist aus meiner Sicht bislang einzigartig und hat ein sehr hohes Transferpotenzial“, resümiert Thoma und denkt da etwa an die zahlreichen Hochhäuser der Region. Anlagen nach Vorbild des ALTMARKTgartens müssten dabei nicht zwangsläufig auf Neubauten beschränkt bleiben, sondern seien auch im Bestand möglich, sofern die Statik mitspielt – „hier geht es um jede Menge zusätzliches Gewicht“ – und einige andere Rahmenbedingungen: „Wie steht es um die Rohrleitungen im Gebäude? Fließt da alles, Schwarzwasser, Brauchwasser, in einem Rohr? Muss man das also aufwendig auftrennen? Da sind Fragen, die man vorab klären muss.“ Grundsätzlich jedoch sei die Metropole Ruhr geradezu prädestiniert für gebäudeintegrierte Landwirtschaft. Was die zukünftige Notwendigkeit – viele urbane Strukturen und eine hohe Bevölkerungsdichte – aber auch die Potenziale angehe. Anders formuliert: Die Region hat die Gebäude, und sie spielt das Thema Versorgung in Ballungsräumen auch schon an anderer Stelle. Stichwort etwa: Nährstoffrückgewinnung aus Abwässern. Fraunhofer UMSICHT selbst forscht dazu am Klärwerk Emschermündung. 

„Die Liste der Vorteile gebäudeintegrierter Landwirtschaft ist lang: geschlossene Ressourcenkreisläufe und eine hochwertige, wassersparende Produktion, kürzere Transportwege ohne aufwendige Kühlung, weil die Lebensmittel gleich unten auf dem Markt verkauft werden, ein kontrollierter Anbau ohne Pestizide, insgesamt ein besserer CO2-​Fußabdruck.“

Dr. Felix ThomaGruppenleitung Indoor-​Farming am Fraunhofer UMSICHT

„Grundsätzlich ist es wichtig, dass wir unabhängiger werden von Extremwetterereignissen. Deshalb müssen wir gerade in urbanen Ballungsräumen wie dem Ruhrgebiet nach neuen Anbaumöglichkeiten suchen und dabei auch über Lagerhallen oder U-Bahnschächte nachdenken. Wir haben hier viele alte Industriehallen. Das heißt nicht, dass wir die klassische Landwirtschaft komplett ersetzen wollen. inFARMING® ist eine Hybridlösung, um das Thema Welternährung insgesamt effizient und nachhaltig anzugehen.“ Eine Lösung, die letztlich auch gesellschaftliche Akzeptanz benötige. „Die Frage ist: Wollen die Menschen Lebensmittel, die in einer Lagerhalle gewachsen sind oder auf einem Parkhaus? Hier braucht es wahrscheinlich noch etwas Überzeugungsarbeit.“

Am ALTMARKTgarten zumindest wurde die Bevölkerung von Anfang an in das Vorhaben einbezogen. Die Resonanz auf das Projekt ist durchweg positiv. Regelmäßige Führungen insbesondere für Schulklassen gehören bis heute fest zum Programm. Denn: „Auch wenn hier sehr viel Technik zum Einsatz kommt, das ist alles in allem ja keine Rocket Science, dahinter steckt keine KI, die irgendetwas macht, was man nicht anfassen kann.“ Im Gegenteil: Auch die Zukunft der Ernährung kommt nicht ohne weiteres ohne die Natur aus. In regelmäßigen Abständen wird ein kleines Hummelvolk bestellt, das für sechs bis acht Wochen die Bestäubung der Erdbeeren übernimmt. High Tech und Hummeln, Technik und Natur, vielleicht ist das genau die richtige Kombination für die Landwirtschaft von morgen.

Investitionen in neue Formen der Lebensmittelproduktion

Für die Umsetzung des ALTMARKTgartens zeichnen mit der Verwaltungszentren Oberhausen GmbH (VZO) und den Servicebetrieben Oberhausen (SBO) zwei Stadttöchter verantwortlich. Die Investitionssumme für das gesamte Gebäude inklusive Aufbau belief sich auf über 30 Millionen Euro. Der Bund hat das gebäudeintegrierte Dachgewächshaus im Rahmen des Programms „Nationale Projekte des Städtebaus“ mit 2,3 Millionen Euro gefördert. Das Jobcenter Oberhausen wurde aufgrund seiner außergewöhnlichen Gestaltung 2022 mit dem Nike-Architekturpreis ausgezeichnet.

Text: Redaktionsbüro Schacht11  
Bilder: Exner Grüne Innovation GmbH, Fraunhofer UMSICHT inFarming®

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